Mittwoch, 13. März 2013

Rundgang durch Ravensbrück oder: Von der Theorie zur Praxis

von Judith A. Hülshorst

Auf dem Weg nach Ravensbrück las ich über die Methode der „Oral History“. Dort wurde vor Konflikten zwischen den Erinnerungen der Überlebenden und den, sofern es sie überhaupt gibt, historischen Tatsachen gewarnt. Im ersten Teil unserer Begegnung zeigte sich mir diese Herausforderung nicht, aber in Ravensbrück wurde sie mir deutlich.
Der uns betreuende pädagogische Mitarbeiter der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Thomas Kunz, führte uns über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Wir, das waren die jungen Journalisten, aber auch die Zeitzeugen und die Organisatoren vom Maximilian-Kolbe-Werk. Zwei Zeitzeuginnen haben das Lager als junge Frauen erlebt, die beiden anderen sind dort geboren. Herr Kunz gab uns mithilfe eines Modells eine erste Orientierung vom Lagergelände, denn anders als in Auschwitz gibt es in Ravensbrück (auf den ersten Blick) nicht viel zu sehen. Erhalten geblieben sind die Kommandantur, sowie Wach- und Wohnhäuser des SS-Personals und die ehemalige Textilfabrik, in der die Häftlinge neben anderen Einsatzstellen zur Zwangsarbeit mussten.

Wenn man auf dem Lagergelände steht, sieht man zwar, wo die Baracken gestanden haben, weil ihre Grundrisse durch kleine Mulden gekennzeichnet sind, sonst ist allerdings vom Häftlingsalltag nicht viel erhalten. Herr Kunz erklärte uns deshalb mithilfe von Zeichnungen, die von einer Überlebenden aus ihrer Erinnerung heraus gezeichnet worden waren, einige prägnante Stellen auf dieser großen freien Fläche. Gelegentlich schaltete sich Frau Voloshina ein und berichtete aus ihren Erinnerungen, es ging etwa um die Position einzelner Gebäude oder um die Kleidung der Häftlinge.

Dabei zeigte sich, was die Theorie schon zu Bedenken gab: Die Erinnerungen von Überlebenden und das Wissen eines Guides unterscheiden sich manchmal gravierend. Gelöst werden können solche Konflikte nicht, jeder Teilnehmer muss für sich entscheiden, wem er mehr glaubt. Das war jedenfalls mein erster Gedanke. Später, auch im Gespräch mit anderen jungen Teilnehmern, fiel mir auf, dass es letztlich gar nicht um „wahr“ oder „unwahr“ geht. Es geht um die direkte Begegnung mit Zeitzeugen, ihre Geschichte zu hören und ihnen mit Offenheit zu begegnen. Die vermeintlichen Fakten rücken bei einem Rundgang dieser Art zunächst in den Hintergrund. In Anbetracht der Geschichte jedes einzelnen Überlebenden spielen „Fakten“ eine untergeordnete Rolle. Sie sind wichtig, um die Geschichte weiterzuerzählen, aber sie dürfen nicht als Maßstab genommen werden, um die Erinnerungen der Zeitzeugen in irgendeiner Form zu bewerten.

Die Führung durch die Gedenkstätte hatte ein weiteres, sehr berührendes Moment. Zum Befreiungstag im Jahr 2005 wurden von einigen ehemaligen Häftlingen überdimensionale Portraits auf wetterfeste Leinwände gedruckt und auf dem Lagergelände aufgehängt. Diese Fotografien sind mittlerweile in einem Gebäude der Textilfabrik aufgehängt. Frau Voloshina drängte Herrn Kunz, die Bilder zu zeigen, denn sie ist selbst Teil dieses Fotoprojekts gewesen. So stand sie vor ihrer eigenen Aufnahme und setzte, zumindest in meiner Wahrnehmung, ein erneutes Zeichen: Sie hat überlebt. Sie ist mit uns zusammen, um uns von ihrer Geschichte zu erzählen. Wir dürfen an ihrem Leben teilhaben.

Dieser Moment und vor allem die Freude in Frau Voloshinas Ausdruck, dass ihr Foto, ihre Geschichte, in Ravensbrück ein Gesicht bekommt, war sehr bewegend. Und ich spürte schon etwas von dem, was der junge Teilnehmer Sebastian in der Reflexion am Abend so prägnant formulierte: „Mir ist ein Zeitzeuge lieber als fünfzig Baracken, die da noch stehen.“

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