Mittwoch, 20. März 2013

"Nach 68 Jahren wieder in Auschwitz. Gedenken am Tatort“

von Daria Bobrovskaya, Russland

27. Januar ist der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus.  Am 27. Januar 2013 jährte sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee zum 68. Mal. Und zum zweiten Mal in ihrem Leben hat die Auschwitz-Überlebende polnische Moskauerin Ksenia Olkhova an diesem Tag - dank dem Maximilian-Kolbe-Werk - die Möglichkeit bekommen, am Tatort Auschwitz im Andenken an die Opfer glühende Kerzen niederzulegen.
10:30   Etwas vorzeitig werden Ksenia und ich von Michail Michaltschow, dem stellvertretenden Direktor des Moskauer Museums des Großen Vaterländischen Kriegs, für die Zeremonie abgeholt. Ksenia – als überlebende Zeitzeugin, ich – als ihre Begleitperson und Projektteilnehmerin des katholischen Maximilian-Kolbe-Werks. Schon seit dem Vorabend hat Frau Olkhova Schmetterlinge im Bauch – in wenigen Stunden muss sie eine Rede vor der russischen und polnischen Delegation und den eingeladenen Gästen halten. Die Rede ist schon aufgeschrieben und ausgedruckt, immerhin muss Ksenia nur vom Blatt ablesen, für die Improvisationen sei sie viel zu aufgeregt.
Michaltschow versucht, die Stimmung zu entspannen, und erzählt uns über die bevorstehende Ausstellungseröffnung, zu der auch Frau Olkhova als besonderer Gast eingeladen ist. Die russische Ausstellung sollte bereits vor acht Jahren in der Baracke, an der wir jetzt vorbei fahren, eröffnet werden – scheiterte jedoch mit einem Skandal und der Abweisung von zu diesem Anlass erschienenen Herrn Putin. Der offiziellen Begründung zufolge war die „verwendete Nomenklatur in Bezug auf die Bevölkerung und Gebiete“ problematisch, „die  aufgrund der UdSSR-Tätigkeiten aus dem Ribbentrop-Molotow-Pakt unter ihre Kontrolle in den Jahren 1939-1941“ kamen. Sprich, Polen wurde als sowjetisches Gebiet auf der großen Weltkarte – dem zentralen Ausstellungsexponat – gezeichnet. „Kaum kann man sich vorstellen, wie viele Mühe uns diese Ausstellung gekostet hat!“ - schaut Herr Michaltschow zurück. Jetzt sei der Stein des Anstoßes jedenfalls beseitigt und nichts solle in der erneuten Ausstellung an den damaligen Konflikt mehr erinnern.

12:00 Nun sind wir in einem Zelt, wo in einer Stunde die Zeremonie zum Gedenktag eröffnet werden soll. Die Stimmung ist etwas hektisch, Journalisten aus vielen Ländern interviewen in allen möglichen Sprachen in aller Eile die Zeitzeugen, die in der ersten Reihe der großen improvisierten Halle sitzen. Auch Frau Olkhova wird alle paar Minuten von den russischen Korrespondenten angesprochen. Mal soll sie der „Stimme Russlands“ verraten, was sie in Auschwitz am Leben gehalten hat, mal soll sie dem Ersten russischen Sender ihre eintätowierte Nummer zeigen. „Ich habe nun Mal keine. Es war schon am Ende des Kriegs, da haben die Nazis eben keine Nummern mehr vergeben…“- muss sie die Frage wiederholt beantworten. Langsam muss sie die Ausfragerei abbrechen und sich auf die Rede konzentrieren. Nun fängt die große Zeremonie in wenigen Minuten an.

13:00 An die Opfer des Nationalsozialismus wird 2013 in der Gedenkstätte Auschwitz international gedacht. Eine Rede hält Piotr Cywiński – wie auch im vorigen Jahr philosophisch und im Blankvers. Auch die russische Delegation hat die richtigen Worte gefunden, um der in Auschwitz vernichteten Menschen mehrerer Nationen zu gedenken, auch wenn sich Herr Sergej Naryschkin eher diplomatisch und trocken ausdrücken muss. Den emotionellen Hintergrund holt der israelische Botschafter in Warschau Zvi Rav-Ner nach. Ausschwitz ist nach wie vor ein Symbol für Rassenwahn und vor allem Judenvernichtung, deshalb drückt sich Herr Zvi Rav-Ner besonders ausdrucksvoll aus, in dem er mehrmals vom Polnischen ins Englische wechseln muss.
Frau Olkhova ist erleichtert – nun ist sie als erste mit ihrer Rede durch, ihr wurde mit großer Aufmerksamkeit zugehört und nun hat sie für den heutigen Tag ihre erste Tagespflicht erfüllt – sowohl vor dem russischen, als auch vor dem polnischen Staat…

13:40 Vor der Ausstellungseröffnung lauern schon die Journalisten.  Wie Herr Michal Michaltschow auch versprochen hat – die Karte ist weg, alle Motive des nationalen Stolzes sind durch Lebensgeschichten einzelner Vernichtungsopfer ersetzt. Kindergeschichten, Frauengeschichten – auf den Tafeln und Bildschirmen kann man Hunderte von den Lebensabrissen nachlesen. Ksenia Olkhova meint, bekannte Gesichter zu erkennen.
„Achtung!“ – warnt Michaltschow. „Genau an dieser Stelle läuft Naryschkin gleich mit seinem Gefolge vorbei. In seinem Kalender sind zwei Minuten für die Unterhaltung mit Ihnen, Ksenia eingeplant. Dann können Sie ihm wohl eine Frage stellen, wenn Sie möchten!“. Nun heißt es volle Bereitschaft – Herr Naryschkin steht uns direkt gegenüber. Frau Olkhova beginnt bedenkenlos über ihr Problem zu berichten – als Auschwitz-Überlebende erhält sie vom russischen Staat nach wie vor keinen Rentenzuschuss, da sie damals Polin war. Ebenfalls verzichtet der polnische Staat auf Auszahlungen. Voller Hoffnung fragt Ksenia nun den großen Duma-Herrn, ob irgendwas in ihrem Fall möglich zu verbessern wäre.
“Wie geht’s Ihnen gesundheitlich?“ erwidert Naryschkin lächelnd auf ihre Frage. Nun schaut der Duma-Vorsitzende zur Seite und zieht vorbei. Das Gespräch ist zu Ende.

15:00 Die Gedenkfeier anlässlich des 68. Jahrestags der Befreiung des KL Auschwitz ist das, worauf Zeitzeugin Ksenia Olkhova am meisten gewartet hat.  Nach den Reden und den Gebeten in hebräischer und polnischer Sprachen dürfen offizielle Delegationen und Zeitzeugen Kränze und angezündete Kerzen niederlegen. Die Zeremonie dauert nur eine knappe Viertelstunde und wird vorzeitig abgeschlossen. Inoffiziell heißt es, die russische Delegation muss wegen der Termine nach Moskau früher abreisen.

Für die dreiundachtzigjährige Auschwitz-Zeitzeugin polnische Moskauerin Ksenia Olkhova sind alle offiziellen Gedenkzeremonien für heute somit abgeschlossen, jetzt geht es weiter zum Buffet, wo sie sich ausruhen kann.  Für junge Projektteilnehmer des Maximilian-Kolbe-Werks fängt das Andenken erst an, da sie nun endlich Mal auf das Gelände der Gedenkstätte nach einer scharfen vierzigminütigen Kontrolle zugelassen wurden…

Der lange Tag hinterlässt Müdigkeit, unausgesprochene Fragen, beinahe Ehrfurcht und eintätowierte Spuren im Gedächtnis.

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