Donnerstag, 31. Januar 2013

"Gezeichnet vom »O«-Trauma - Zeitzeugen erinnern sich" von Ilja Regier

Auschwitz (WB). Egal, wo Anastasia Gulej der Buchstabe »O« begegnet – er verbindet sie mit dem dunkelsten Kapitel: Oswiecim. Zwei Jahre ihres Lebens, von 1943 bis 1945, hat das KZ Auschwitz-Birkenau ihr geraubt.
Gezeichnet hat es sie aber für immer. Sie hatte sich schon aufgegeben, mit ihrem Schicksal, dem Tod, abgeschlossen. Lediglich die anderen – ihre Gedanken waren bei ihnen. Die Menge an friedlichen Menschen, die unschuldig in Scharen in Richtung Wald und »Dusche« getrieben wurden. Jungen, die Bälle in die Luft warfen. Mädchen, die ihre Puppen eng umklammerten. Nur für sie habe sie Mitleid empfunden. »Dass meine Häftlingsnummer bald an der Reihe sein würde, war für mich beschlossen«, erklärt die 87-jährige Ukrainerin. Eine Tätowierung der Zahlenkombination 61396 trägt sie auf dem linken Arm, stellvertretend für die Ausradierung ihrer Identität im KZ.

Jacek Zieliniewicz ist sein fortgeschrittenes Alter anzusehen. Mit einer dünnen Jacke, ohne Schal, dafür mit einem sicheren Gang, dessen Tempo er immer wieder anzieht, begibt er sich an den Ort, an den er 1943 für mehr als ein Jahr deportiert war: Auschwitz- Birkenau. Wind und Schnee machen ihm nichts, die Kälte weht ihm ins Gesicht. Er steht vor der Baracke Nummer sieben und deutet darauf. »Das war meine.«
Dort musste er ansehen, wie Menschen misshandelt wurden. Von dort aus sah er die Massen an Neuankömmlingen, die selektiert wurden. Ein Daumenzeig des Lagerarztes, entweder links oder rechts, entschied über Arbeitslager oder Gaskammer. Der 86-jährige Pole verweist dann aber auf die Gegenwart. Frieden, Freiheit, Freundschaft. Nichts anderes wünsche er sich.
In einem Wachturm steht Anastasia Gulej. Unterhalb von ihr ist das Tor zur Hölle, das als Symbol der Vernichtung weltweit bekannt wurde. Anastasia Gulej sammelt sich. »Wir haben es überlebt, wir haben den KZ-Kommandanten Rudolf Höss überlebt. Er ist tot, wir dagegen sind am Leben geblieben«, bemerkt sie lächelnd, stolz zugleich – und schaut herunter auf das große, verlassene Areal der Grausamkeit.

Erschienen im Westfalen-Blatt (Nummer 24) am 29. Januar 2013

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